Wind weht nicht immer so, wie Strom benötigt wird. Ein Windrad steht daher immer wieder mal still -- trotz guter Windverhältnisse. Nicht so im brandenburgischen Nechlin. Dort nutzt man an solchen Tagen den überschüssigen Strom, um in einem Windwärmespeicher Wasser zu erhitzen. Der eine Million Liter fassende Tank versorgt das ganze Dorf günstig und klimaneutral mit warmem Wasser für Heizung und Haushalt. So profitieren alle Bewohner ganz unmittelbar von den Windenergieanlagen am Dorfrand.
Das rund 100 Einwohner zählende idyllische Nechlin mit seiner Feldsteinkirche aus dem 13. Jahrhundert liegt unweit von Prenzlau in der Uckermark, an der Grenze von Brandenburg und Mecklenburg. Radtouristen kennen es vom Fernradweg Berlin-Usedom. Wer sich die Zeit nimmt, an der Durchgangsstraße absteigt und dem Schild „Innovativer Ort der Energiewende“ folgt, gelangt über einen kleinen Weg zum Ortsrand. Dort steht ein großer grüner mit Metall verkleideter Wasserspeicher. Daneben ist in einem Glashaus der Durchlauferhitzer untergebracht. Infotafeln erläutern die Details des Konzepts.
Was den Speicher so besonders macht, offenbart sich beim Blick auf den angrenzenden Acker. Auf dem ragen etliche Windenergieanlagen in den Himmel. „Es ist der weltweit erste Windwärmespeicher, der mit überschüssiger Windenergie betrieben wird“, erklärt Matthias Schilling. Er ist Bürgermeister der Gemeinde Uckerland, zu der Nechlin seit 2001 gehört. Auch der Aufsichtsrats-Chef der Betreiberfirma Enertrag, Jörg Müller, ist vor Ort.
Das Prinzip, wie die Wärme erzeugt wird, ist denkbar simpel. „Das funktioniert wie ein riesiger Durchlauferhitzer“, sagt Schilling. Statt die Windräder an Tagen mit Überkapazitäten abzuschalten, drehen sie sich weiter und liefern den Strom direkt an den Durchlauferhitzer. Der erwärmt in wenigen Stunden das Wasser in dem gut isolierten Tank auf bis zu 93 Grad. Zwei Wochen hält dieser es ausreichend warm, damit die Nechliner heizen und duschen können.
Der Windwärmespeicher ging 2020 in Betrieb, Windräder sind jedoch bereits seit fast 24 Jahren ein vertrauter Anblick auf den Feldern der nordöstlichen Uckermark. 111 stehen derzeit in der Gemeinde Uckerland. Der Nordosten Brandenburgs ist sehr dünn besiedelt. Vielleicht ist auch dies ein Grund, warum man dort in Frieden mit den Anlagen lebt. „Sie finden hier vor Ort keinen Widerstand gegen die Windräder und den Speicher“, sagt die Ortsbeiratsvorsitzende Sabine Krawzikowski. Ihre Familie lebt seit sieben Generationen in Nechlin.
„Die Jüngeren sind quasi mit den Windrädern aufgewachsen. Das ist für uns zur Normalität geworden“, bestätigt ihr Neffe Andreas Krieser. Er erzählt, wie das Dorf sich damals, vor 24 Jahren nachts die Wecker stellte, um die Anlieferung der ersten riesigen Anlagen zu bestaunen. „Wir fanden das spannend, wie die aufgebaut wurden.“ Zur Einweihung der ersten Windräder gab es ein riesiges Fest für den ganzen Ort. Nur vereinzelt gab es Widerspruch, aber nicht von Alteingesessenen. Es seien Berliner gewesen, die in die Uckermark gezogen waren und die reine Idylle bedroht sahen, sagt Sabine Krawzikowski.
Angesichts der wachsenden Anzahl von Windrädern sei die Akzeptanz jedoch kein Selbstläufer: „Dafür ist es wichtig, das Dorf mitzunehmen“, bekräftigt Bürgermeister Schilling. „Wir brauchen Wertschöpfung für alle, nicht nur für jene, die ihr Land verpachten.“ In Nechlin war das von Anfang an der Fall. Bevor die Windräder dem Dorf durch den Wasserspeicher günstige Wärme lieferten, brachten sie bereits ansehnliche Einnahmen für den Ort. Für jedes der damals 14 Windräder zahlte der Betreiber Enertrag von Anfang an jährlich 10 000 DM an die damals noch unabhängige Gemeinde – insgesamt also stattliche 140 000 DM. Seit 2023 erhält die Gemeinde Uckerland nun die Akzeptanzabgabe.
Von den Einnahmen aus der Windenergie hat das Dorf unter anderem eine Straße gebaut, das Gebäude der Freiwilligen Feuerwehr finanziert und ebenso den Festpavillon am Dorfrand samt dem kleinen Fußballplatz, den sie auf einem Rundgang zeigen. Für Sabine Krawzikowski machen diese Investitionen durchaus einen Unterschied: „Wenn man sieht, dass etwas für die Gemeinde getan wird, hat man eine ganz andere Einstellung zu der Sache.“
Andreas Krieser betreibt in Nechlin ein Restaurant in einer umgebauten Brennerei, einen Veranstaltungsbetrieb in einem alten Kornspeicher sowie eine große Cateringküche. Von der aus werden unter anderem Kitas und Schulen im Umkreis von 80 Kilometern mit frisch gekochtem Essen versorgt. Es ist ein grünes, regeneratives Gesamtkonzept, das er dort mit Unterstützung von Enertrag- Gründer Jörg Müller realisiert hat. Die abgehende Hitze aus der Cateringküche wird über eine Wärmerückgewinnungsanlage wiederverwertet. Die Fensterläden des Speichers bestehen aus Sonnenkollektoren, auch Photovoltaik-Anlagen auf den Dächern erzeugen grüne Energie.
Etliche Autos der Catering-Flotte fahren bereits elektrisch. Küche, Restaurant und Hotel liefern täglich den Beweis, dass auch Unternehmen mit einer Kombination aus Wind- und Solarenergie ausreichend mit Wärme und Strom versorgt werden können. „Alle drei Betriebe arbeiten ohne Anschluss ans öffentliche Stromnetz“, sagt Andreas Krieser nicht ohne Stolz. Die Windenergie vor der Tür lädt einen kleinen Batteriespeicher auf, der in einem telefonzellengroßen Gebäude am Wegesrand untergebracht ist. Er sichert an sonnenarmen Tagen die Stromversorgung. „Meine Energiekosten sind 40 Prozent niedriger, als wenn ich Strom und Wärme von einem Energieversorger beziehen würde.“
Auch für Privathaushalte zahlt sich das Heizen mit Windenergie aus. „Das haben wir von Anfang an gemerkt“, bestätigt Sabine Krawzikowski. Im Keller ihres Mehrfamilienhauses zeigt sie den Pufferspeicher mit 345 Litern Volumen, der warmes Wasser für die acht Haushalte vorhält. Der grüne Hauptspeicher sorgt zuverlässig für Nachschub. Nur als Notnagel für tiefkalte Monate steht eine Holzhackschnitzelanlage in der alten Brennerei. Von dort aus wurden seit 2013 die Nechliner Haushalte über ein Nahwärmenetz mit warmem Wasser versorgt. Diese Infrastruktur bildete die perfekte Grundlage für den nächsten Energieschritt: Der Windwärmespeicher konnte ohne viel Aufwand an das bestehende Nahwärmenetz angeschlossen werden. Das machte den Übergang von Holz zur Windenergie als Energiequelle einfacher.
Die Windräder samt Jörg Müllers Engagement rund um die grüne Energiezeugung haben darüber hinaus Jobs in die Region gebracht. Ein Drittel der 1100 Enertrag-Mitarbeiter lebt im Umkreis, die Firmenzentrale ist nicht weit entfernt. Auch Sabine Krawzikowskis Tochter arbeitet „bei Müllers“, sprich Enertrag, im Bereich des Arbeitsschutzes. „Enertrag ist ein super zuverlässiger Partner“, sagt Bürgermeister Schilling. Man kennt sich, man vertraut sich. Das sei ist ein wichtiger Teil des Erfolgs. Er würde Windwärmespeicher wie in Nechlin gerne in weiteren der elf Ortsteile der Gemeinde Uckerland installieren. „Es gibt bereits konkrete Projektskizzen“, verrät Schilling, der nicht lockerlassen will, dieses „geniale Modell“ weiter zu verbreiten. Eines muss er jedenfalls nicht mehr beweisen: Dass ein ganzes Dorf mit überschüssiger Windenergie beheizt werden kann.
Text von Petra Krimphove.