In Nordrhein-Westfalen, südöstlich von Paderborn, liegt die Energiestadt Lichtenau. Hier wird Energiewende gelebt: Mit Wind- und Solaranlagen und einem Mix aus Bioenergie und Wasserkraft erzeugt die Stadt ein Vielfaches der Energie, die sie selbst verbraucht. Ein Erfolgsrezept in jeder Hinsicht, denn mit den Einnahmen aus der Windenergie konnten bereits unzählige Projekte und Veranstaltungen finanziert werden, von denen Mensch und Umwelt gleichermaßen profitieren.
„Der Esel geht nach Paderborn, dort hat er einen Strumpf verloren“ heißt es in Janoschs „Kleiner Tierkunde für Kinder“. Mehr Informationen liefert der Autor leider nicht, und so bleiben Fragen offen: Hat der Esel seinen Strumpf wiedergefunden? Wie geht es ihm mit seinem Verlust? Und: Kam der Esel womöglich auf seinem Weg durch Lichtenau?
Das beschauliche Städtchen Lichtenau liegt im Bürener Land, etwa 17 Kilometer südöstlich von Paderborn (für einen Esel tatsächlich eine machbare Tagesstrecke) in Nordrhein-Westfalen. Bemerkenswert an diesem Ort ist allerdings weniger, ob und wie viele Esel sich von hier aus auf die Suche nach ihren verlorenen Strümpfen machen, sondern woher Lichtenau seine Energie bezieht – und wie die ganze Region davon profitiert!
Die sogenannte „Energiestadt“ produziert nämlich ein Vielfaches des Strombedarfs der rund 12.000 Einwohner*innen - und das mit Erneuerbaren Energien. Größter Leistungsträger sind stolze 187 Windräder. Sie allein erzeugen 900 Gigawattstunden pro Jahr. Ergänzt wird der Erneuerbare-Energien-Mix durch Solaranlagen, Biomasse- und Wasserkraftwerke. Pro Kopf sind das rund 85.000 Kilowattstunden Energie im Jahr. Der jährliche Stromverbrauch pro Kopf liegt in Deutschland allerdings nur bei rund 1.300 Kilowattstunden.
Die Lichtenauer profitieren von der regionalen, regenerativen Energieerzeugung zunächst durch günstige Strompreise, stabile Trinkwasserpreise und eine Verdoppelung der Gewerbesteuereinnahmen. Viele Anwohner*innen beteiligen sich außerdem über verschiedene Energiegenossenschaften finanziell an den Windenergieanlagen vor Ort. Energiegenossenschaften wie Paderborner Land oder BürgerWIND bieten den Bürger*innen der Region die Möglichkeit, sich aktiv für eine nachhaltige und dezentrale Energieversorgung einzusetzen und so die regionale Energiezukunft mitzugestalten. Der Anteil der Großinvestoren ist gedeckelt, um möglichst vielen „Normalverdienern“ eine Beteiligung zu ermöglichen. Dennoch ist die Nachfrage nach finanziellen Beteiligungen oft größer als das Angebot.
Doch der Nutzen der Windkraft geht weit über finanzielle Vorteile hinaus. Um die Bürger*innen der Energiestadt Lichtenau an den Erträgen der Windkraft teilhaben zu lassen, wurde 2016 die Bürger- und Energiestiftung Lichtenau mit dem Motto „Heimat gestalten, Gemeinsinn fördern“ gegründet. Über sie können Projekte ehrenamtlicher Vereine und Initiativen finanziell unterstützt werden – mit Geldern aus der Windenergie. Und davon profitieren wiederum viele, denn: „Fast jeder Bürger hier vor Ort ist in irgendeinem Verein aktiv", so Günter Voß, Klimaschutzmanager von Lichtenau. Er begleitet die Energiewende der Stadt bereits seit 2004.
Dank der Stiftung können viele Projekte realisiert werden, für die die Stadt alleine nicht die Mittel hätte. Das Antragsverfahren ist niederschwellig gehalten, so dass Vereine und Initiativen der Energiestadt unkompliziert Projektförderungen beantragen können. Von der Anschaffung neuer Instrumente für den Nachwuchs in den Musikvereinen über Bodentrampoline für Kita und Grundschule bis hin zur Umrüstung auf energieeffiziente Technik in Vereinsheimen – die Beispiele, wie die Stiftung mit Hilfe der Windenergie das Leben der Menschen vor Ort verbessert, sind vielfältig. Auch in den Natur- und Artenschutz wird investiert, zum Beispiel mit der finanziellen Unterstützung des Projekts „Wiedervernässung des Niedermoors Veddernkamp“ in Kleinenberg, mit der Finanzierung von Drohnen zur Rehkitzrettung oder mit Mitteln für die Pflanzung einer Streuobstwiese – inklusive der Ausbildung von zwei Imkern für die dazugehörigen Bienenvölker. Über 200 verschiedene Projekte konnten seit Gründung der Stiftung mit insgesamt über einer Million Euro gefördert werden.
Ein persönliches Projekt-Highlight des Klimaschutzmanagers? Die Installation einer Photovoltaikanlage durch die Schützenbruderschaft Atteln, einem Ortsteil von Lichtenau, die zu einem großen Teil aus Mitteln des regionalen Energiewettbewerbs „Sanieren - Profitieren“ finanziert werden konnte. Der Verein, dessen Geschichte bis ins 18. Jahrhundert zurückreicht, beweist mit seiner Initiative: Tradition und Technologieoffenheit passen zusammen! „In vollem Lametta“, also in Uniform, Scherpe und Auszeichnungen auf der Brust, sei der Schützenverein bei der Preisverleihung erschienen, berichtet Voß begeistert. In Lichtenau habe man mit der Zeit gelernt, alles zusammen zu denken. Wirtschaftsförderung, Tourismus, Kultur … und eben auch Klimaschutz.
Die Erfolgsgeschichte der Energiestadt reicht ins letzte Jahrhundert zurück. Bereits 1997 stand in Lichtenau mit 67 Anlagen der damals größte binnenländische Windpark. Seitdem hat sich Lichtenau von einer strukturschwachen zu einer der einkommensstärksten Kommunen im Kreis Paderborn entwickelt. „Dabei war es von vornherein wichtig, die Anwohnerinnen und Anwohner miteinzubeziehen“, berichtet Voß. „Durch niedrige Umlagen oder reduzierte Gebühren können wir allen etwas bieten, auch denen, die sich nicht direkt an einer Windenergieanlage beteiligen können oder wollen.“
So oder so ist die Inbetriebnahme einer neuen Windenergieanlage ein Grund zum Feiern: „Es geht eigentlich kein Windpark ohne begleitendes Volksfest in Betrieb“, erzählt Voß. „Da kommen dann auch die erklärten Gegner zum Versöhnungstrunk.“
Regelmäßige Informationsveranstaltungen und die „Energietour Lichtenau“ – ein Elektrobus, der verschiedene Orte der Energiewende anfährt - geben den Bürger*innen und Besucher*innen einen Einblick in die Energieprojekte der Stadt.
Erste Station der Energietour: das Technologiezentrum für Zukunftsenergien Lichtenau. Das sogenannte „TZL“ wurde 2005 gegründet und ist als zentrale Anlaufstelle rund um das Thema Zukunftsenergien in der Region eines der Leuchtturmprojekte der Energiestadt Lichtenau. Mit einer Wärmepumpe, einer Photovoltaikanlage auf dem Dach und Strom aus Windenergie wird hier die Energiewende praktisch erlebbar. Ein weiterer Schwerpunkt ist die E-Mobilität in Form von Lademöglichkeiten für E-Autos und E-Bikes. Das Technologiezentrum bietet Events und Informationsveranstaltungen rund um Erneuerbare Energien sowie Tagungsräume für Veranstaltungen.
Vorbei am Enercon Trainingscenter und einem Windpark geht es weiter zum Klima-Campus: Neben Kita, Sportvereinen und Freibad steht hier die energetisch sanierte Realschule von Lichtenau mit PV-Anlage, Eisspeicher, begrüntem Dach und grünem Klassenzimmer. Für die rein regenerative Energieversorgung wurde der Klima-Campus im Frühjahr 2024 vom Land Nordrhein-Westphalen als "Energie-effizientes Nicht-Wohngebäude" ausgezeichnet. Nachhaltigkeit wird hier aber nicht nur technisch umgesetzt, sondern auch in Form von „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ an den Nachwuchs vermittelt.
Auch das Gesamtkonzept der Stadt Lichtenau wurde inzwischen geehrt: Im Dezember 2024 erhielt die Stadt Lichtenau den Deutschen Solarpreis und wurde als „Erfolgsmodell durch Erneuerbare Energien und Bürgerbeteiligung“ gewürdigt.
Man muss wissen, dass die „Kleine Tierkunde für Kinder“ 1984 veröffentlicht wurde. Damals hätte ein strumpfsuchender Esel im Raum Paderborn also weder Windräder in Lichtenau noch grüne Klassenzimmer gefunden, von Photovoltaikanlagen auf dem Dach des Schützenvereins ganz zu schweigen. Esel können 40 Jahre alt werden, wenn sie artgerecht gehalten werden. Sollte der Esel von damals, aus welchen Gründen auch immer, noch einmal durch Lichtenau kommen, wird er sich hoffentlich darüber freuen, wie sozial und umweltfreundlich die Lichtenauer*innen ihre Heimat gestalten - und das nicht zuletzt mit Hilfe der Windenergie!