Es ist ein Pionierprojekt: In Hohenlimburg bei Hagen versorgen seit Juni 2024 vier Windräder über eine Direktleitung das dort ansässige Werk von thyssenkrupp steel mit Strom. Das Energieunternehmen SL NaturEnergie, Initiator der Idee, ist überzeugt, dass dieses Beispiel Schule machen kann.
„Die Zusammenarbeit hat von Beginn an hervorragend gepasst, auch vom Mindset“, sagt SL NaturEnergie-Geschäftsführer Milan Nitzschke. Sein Unternehmen wollte ohnehin auf den Hügeln der Sauerland-Ausläufer neue Windräder errichten, Thyssenkrupp wiederum suchte einen verlässlichen Lieferanten für grünen Strom, um die CO2-Bilanz des Werks zu verbessern und steigenden CO2-Abgaben und Netzentgelten entgegen zu wirken. Deutschlands größter Stahlhersteller ist als energie- und CO2-intensives Unternehmen nach eigener Aussage entschlossen, seine Produktion langfristig klimafreundlich umzugestalten. Die angeschlossenen Windräder decken nun im Hohenlimburger Werk 40 Prozent der benötigten Strommenge mit grüner, lokal erzeugter Energie ab. So lassen sich in einem ersten Schritt bereits elf Prozent der CO2-Emissionen des Hagener Standorts einsparen.
SL NaturEnergie plant und betreibt von Gladbeck aus Anlagen ausschließlich in Nordrhein-Westfalen. „NRW ist Industrie“, sagt Nitzschke, an ihr hängen Erfolg und Misserfolg des Landes. Insofern ist hier auch das Thema Erneuerbare Energie untrennbar mit der Industrie verbunden. Zu zeigen, dass grüner Strom auch den großen Konzernen nutzt, dass die Energiewende den Industriestandort stärken kann und nicht gefährdet, liegt ihm am Herzen.
Die Anfänge des Projekts reichen 14 Jahre zurück. Milan Nitzschke erzählt, dass es über ein Jahrzehnt dauerte, bis die Widerstände in der Stadt Hagen, die Bedenken des Naturschutzbundes Deutschland und der Bevölkerung überwunden waren. Es half bei der Argumentation, dass SL NaturEnergie die vom Sturm Kyrill entwaldeten Flächen nutzen konnte und keinen Wald abholzen musste.
Als klar war, dass mit Thyssenkrupp im Lennetal ein direkter Abnehmer für den grünen Strom an Bord kam, plante und verlegte das Energieunternehmen die drei Kilometer lange direkte Leitung zwischen den Windrädern und dem Werk. Erst wenn der Bedarf des Werks gedeckt ist, geht der Strom durch das öffentliche Netz weiter an die Schwestergesellschaft thyssenkrupp Electrical Steel in Gelsenkirchen.
Für Dr. Christoph Evers, Teamkoordinator Hot rolling bei thyssenkrupp Hohenlimburg, ist der grüne Strom aus den Windrädern ein unvermeidbarer Schritt zur Zukunftssicherung des Standorts. Das thyssenkrupp-Werk ist der größte Stromverbraucher hier im Lennetal. Seit über 400 Jahren existiert der Standort in Hohenlimburg, erst als Drahtfabrik, nun als Produzent für das sogenannte Hohenlimburger Mittelband, auch bekannt unter dem Markennamen precidur®. Das ist auf 1,5 bis 16 Millimetern Dicke gewalztes Stahlband, das dann in Betrieben der Kaltwalz- und Automobilzulieferindustrie weiterverarbeitet wird. Evers nennt Beispiele für die Endprodukte: Rückholsysteme für Sitzgurte, Achsträger, Getriebeteile, Zahnkränze für den Sitzversteller.
„Wir machen hier aus einem harten Stück Butter Haribo-Lakritzschnecken“, macht er bei einem Werksrundgang die Form-Verwandlung eines kompakten Stahlblocks zu Riesenrollen dünner Stahlbänder, sogenannten Coils, anschaulich. Die Butterstücke sind in diesem Fall in Duisburg bei thyssenkrupp produzierte Stahlbrammen, die hier zum Glühen gebracht und dann bei 1250 Grad Celsius zu immer dünneren Bändern gewalzt werden. Derzeit sind hier 900 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in dem zwanzig Fußballfelder großen Werk beschäftigt.
„Wir brauchen enorm viel Strom“, sagt Christoph Evers. 110 Gigawattstunden pro Jahr, so viel, wie die Stadt Iserlohn mit ihren knapp 100.000 Einwohner*innen. Die neun massiven Walzgerüste, mit denen das glühende Band gewalzt wird, sind die Stromfresser im Betrieb. Jedes Walzgerüst wird durch einen 4200 PS starken Motor angetrieben.
Das hier ist Schwerindustrie, angetrieben durch grünen Strom. Aus einer zehn Meter langen Bramme werden am Ende des Walzprozesses bis zu 1000 Meter Stahlband, das vollautomatisch aufgerollt, verpackt und mit einem Label versehen wird. Es zischt und dampft dramatisch, wenn Wasser den glühenden Stahl abkühlt. Am Ende des Prozesses lagern die aufgerollten Stahlbänder, jedes rund zehn Tonnen schwer, innerhalb und außerhalb der Halle und warten auf ihren Transport zur Weiterverarbeitung oder zum Kunden. Oben im verglasten Steuerstand mit Blick über die gesamte Halle sitzen zwei Mitarbeitende vor einer ganzen Reihe von Monitoren und steuern den Prozess. Was früher körperliche Schwerstarbeit unter Hitze und Lärm war, erledigen heute weitgehend automatisierte Anlagen.
Die drei Kilometer zwischen den vier Windrädern und dem Werk verbinden zwei Welten. Hier, in den südöstlichen Ausläufern des Ruhrgebiets, gehen Industrielandschaft und Natur fast fließend ineinander über. Unten im Tal entlang der Lenne reihen sich die Industriewerke aneinander, deren Ursprünge zum Teil Jahrhunderte zurückreichen. Am Stoppelberg, wenige Kilometer entfernt an der Grenze zum Sauerland, ist von Industrie nichts zu sehen oder zu spüren. Hier stehen die vier bis zu 160 Meter hohen Windräder, deren Strom die Stahlwalzen in den Thyssenkrupp-Hallen im Tal antreibt.
Die Verlegung der Direktleitung war ein herausforderndes Unterfangen, erzählt Holger Dirks von der Technische Betriebsführung bei SL NaturEnergie auf der kurzen Fahrt vom Werk über kurvige und schmale Waldwege hin zu den Windrädern. Die Leitung musste zunächst den Fluss Lenne unterqueren und dann auf der gesamten Strecke durch Wohngebiete und den Berg hinauf unterirdisch verlegt werden. Im Zuge dessen wurden Straßen neu geteert und Waldwege ausgebaut. Auch der Transport der 68 Meter langen Rotorblätter auf kurvigen Waldwegen zum Zielort war eine echte Herausforderung und nur durch den Transport per Selbstfahrer (auch Bladelifter oder SPMT genannt) möglich. Dieser Selbstfahrer ist ein ferngesteuerter Transporter, der das Rotorblatt bis zu 60 Grad aufrichten kann, um Engstellen besser zu passieren. Doch es hat sich gelohnt. Die Standorte auf den Hügeln seien so windreich wie manche Küstenstandorte, sagt Holger Dirks.
Allerdings gibt es im ländlich geprägten Sauerland nach wie vor erheblichen Widerstand gegen den Ausbau der Windenergie. Hier im Tal, rund um die Industrie, sei dies anders, hier sei den Menschen der direkte Nutzen der Windenergie für die Wirtschaft vor Ort bewusst, sagt Milan Nitzschke. „Die Industriebetriebe haben einen enormen Energiebedarf, Kohle und Erdgas sind für die Stromerzeugung keine Option mehr. Wir brauchen die Windkraft hier, damit die Unternehmen Strom haben.“
Christoph Evers und Milan Nitzschke sind voll des Lobes über die konstruktive Zusammenarbeit. „Bei all den Schwierigkeiten war es nie ein Nebeneinander, sondern ein Miteinander.“ Vieles war Pionierarbeit, auch innerhalb des Konzerns und habe „sehr viele über eine sehr lange Zeit beschäftigt“, sagt Evers. Er betont das wichtigste Argument für die Kooperation: SL NaturEnergie und Thyssenkrupp haben einen langfristigen Liefervertrag zu einem „stabilen, kalkulierbaren und wettbewerbsfähigen Preis“ abgeschlossen, egal wie sich die Marktpreise entwickeln. Das mache die Versorgung mit grünem Strom zuverlässig und planbar. Zudem entfallen durch das eigens verlegte Kabel das Netzentgelt ebenso wie die Stromsteuer – und die steigenden CO2-Abgaben. Würde das Unternehmen nicht grünen Strom beziehen, müsste es für die CO2-Bilanz des Konzerns Grünstromzertifikate kaufen. Thyssenkrupp will bis 2045 kein CO2 mehr emittieren, bis dahin soll Deutschlands Wirtschaft klimaneutral produzieren.
Das Pilotprojekt hat Vorbildcharakter. SL NaturEnergie erhält regelmäßig Anfragen anderer Industrieunternehmen nach Windstrom aus Direktleitungen, sagt Milan Nitzschke. „Dies hier ist nur der Anfang. NRW ist ein Industrieland, was wir hier geschafft haben, lässt sich verzigfachen.“ Denn: „Bezahlbarer Grünstrom wertet den Standort auf.“
Doch noch gebe es eine problematische Unklarheit im Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG): Wie lang darf eine Direktleitung sein, ohne Netzentgelte abführen zu müssen? Das EEG spricht von „unmittelbarer räumlicher Nähe", das Energiewirtschaftsgesetz (EnWG) von „bis zu 5 km". Diese Begrenzungen hält Nitzschke für nicht zielführend. „Dafür gibt es kein Argument, solange es unsere Leitung und kein öffentliches Netz ist.“ Ohnehin würde niemand viele Kilometer lange Leitungen legen, da diese viel zu teuer wären. Sein Vorschlag einer Regelung: "Eine Direktleitung ist eine Stromleitung, an die niemand anderes angeschlossen ist als Erzeuger und industrieller Verbraucher.“ Derzeit sei die Unsicherheit über die zulässige Entfernung der Hauptgrund, warum es bundesweit kein anderes Modell wie in Hohenlimburg gibt. Nitztschkes Forderung: „Diese regulatorische Begrenzung muss weg.“ Denn die Einsparung der Netzentgelte sei ein wichtiger und notwendiger Standortfaktor für energieintensive Industriebetriebe wie Thyssenkrupp. Und diese Einsparung sei gerechtfertigt, da dieser Strom das Netz nicht belastet.
Wenn es nach Christoph Evers geht, ist unter den richtigen Bedingungen die Grünstrom-Belieferung weiter ausbaufähig. „Wir haben uns auf den Weg gemacht. Und wenn die Frage lautet: Wollt ihr denn noch mehr? Ja, warum denn nicht?“
Text von Petra Krimphove.