In Dardesheim (Sachsen-Anhalt) wurde schon vor der Deutschen Einheit die Energiewende geprobt. Mittlerweile ist die Windenergie dort fester Bestandteil der Kommunalpolitik.
Selbst im Ratssaal von Dardesheim steht ein Windrad – allerdings ein deutlich kleineres, im Vergleich zu den vielen Stromproduzenten, die in der Region um die sachsen-anhaltinische Kommune im Laufe der Jahre errichtet wurden. Ihre Nabenhöhe liegt bei rund zweieinhalb Meter, drei Meter misst der Rotordurchmesser. Rote Flügelspitzen, grüner Turmfuß – das Ganze sei ein Schulprojekt, erklärt Ortsbürgermeister Ralf Voigt.
Die Anlage ist nichts anderes als ein politisches Statement, platziert an prominentem Ort.. In Dardesheim, unweit des Harzes, wurde das Thema Windenergie anders angepackt als in vielen anderen Gemeinden. Vom ersten Moment an hatten Windenergie-Enthusiasten der ersten Stunde darauf geachtet, dass alle Menschen im Ort profitieren: Bürger, Vereine, die ganze Kommune. Investoren, die nur Geld aus der strukturschwachen Gegend abziehen würden, hatten dort keine Chance.
Dardesheim wurde im Jahr 2010 der Einheitsgemeinde Stadt Osterwieck zugeordnet. Doch schon vor dem Mauerfall 1989 hatte im Ort die Idee, mit Windenergie Strom zu produzieren, Einzug gehalten. Ein Sohn der Stadt war seiner Zeit voraus: Karl Radach, wollte in den späten 1980er Jahren dort eine kleine Anlage errichten, erinnert sich Sohn Thomas. Doch das passte dem Regime nicht – zu viel Eigeninitiative, zu viel Privateigentum.
Aber Radach war beharrlich, nach der Wende ging er das Thema erneut an: Im Februar 1992 stelle er einen Antrag auf Errichtung eines Windrads an seinem Wohnhaus auf dem Dardesheimer Butterberg. Zwei Jahre später ging die Lagerwey LW 18/80, ein Zweiflügler mit 40 Metern Masthöhe und 80 Kilowatt installierter Leistung in Betrieb. Nach über 30 Jahren ist sie inzwischen abgebaut, aber eine baugleiche Maschine steht noch immer im nahegelegenen Wennerode, knapp hinter der Grenze zu Niedersachsen.
Drei weitere Windkraftanlagen, nun bereits deutlich leistungsstärker, folgten im Oktober 1995 auf Dardesheimer Gemarkung. Es waren ebenfalls zweiflüglige Maschinen des Herstellers Lagerwey, jede 250 Kilowatt stark. Damit erzeugte die Dardesheimer Windkraft bereits mehr Strom als im Ort verbraucht wurde.
Im Jahr 2000 wurde dann die Windpark Druiberg GmbH & Co. KG als Betreibergesellschaft gegründet. Sie errichtete nach und nach weitere Anlagen und betreibt heute 37 der 43 Windräder, die auf dem Berg zwischen Dardesheim, Badersleben und Rohrsheim stehen. Thomas Radach, Sohn des einstigen Windpioniers, ist dort technischer Leiter.
Spektakulärer als der Windpark selbst sind die Begleitumstände. Denn ein Prozent der Umsätze des Windparks – immerhin rund 100.000 Euro pro Jahr – werden an die Vereine in den drei angrenzen Orten ausgeschüttet. Der Förderverein Stadt Dardesheim e.V, 2005 gegründet, beschreibt sich als „Plattform und Dachverein für alle Vereine, Gruppen und mehrere Einzelpersonen“. 25 Vereine sind Mitglied im Förderverein, der die Mittel aus der Windenergie nach intensiven Beratungen alljährlich an die einzelnen Gruppierungen weiterreicht. So herrscht maximale Transparenz.
Die finanzielle Unterstützung wird immer wieder im Ortsbild der drei Teilorte sichtbar: In Badersleben wurde eine alte Bockwindmühle zum Begegnungszentrum ausgebaut, in Badersleben und Rohrsheim werden die Schwimmbäder durch regelmäßige Zahlungen unterstützt.
Dem Förderverein kam auf diese Weise ein fester Platz in der Kommunalpolitik zu. Unter dem Namen „Wählergemeinschaft Förderverein Dardesheim“ ist er inzwischen im Ortschaftsrat von Dardesheim vertreten – mit sechs von sieben Sitzen. Vereinschef Heimo Kirste konnte bei der jüngsten Kommunalwahl im Juni sogar die meisten Stimmen auf sich vereinigen.
Ganz offenbar findet das Konzept breite Zustimmung. Daran könnte auch die „Leitlinie für faire Windkraft-und Solar-Projekte“, die man sich in Osterwieck gegeben hat, einen Anteil haben. In der Selbstverpflichtung stehen solche Dinge, wie: „Verhinderung externer Mehrheitsbeteiligungen“, „Beteiligung aller interessierten Akteure“ und die „Beteiligung aller Interessengruppen der Einheitsgemeinde“. Ohnehin geht die Region immer vor: Rund 90 Prozent der Windpark-Investitionen von rund 100 Millionen Euro seien „regional und in Sachsen-Anhalt getätigt“ worden, rechnen die Akteure vor.
Auch die Stadt selbst profitiert von dem Windpark. Man wolle „regionale Demokratie und Wertschöpfung stärken durch Wind- und Solarpark-Teilhabe“, erklären die Windkraft-Investoren. Weil dafür „die Zahlungen nach § 6 EEG nicht ausreichend“ seien, bekommt auch die Stadt zusätzliche Gelder aus den Windpark-Erlösen.
Gewerbesteuer erhält sie obendrein. Von Einnahmen in Höhe von 600.000 bis 800.000 Euro im Jahr habe der Windpark-Betreiber einmal gesprochen, sagt Dirk Heinemann, Bürgermeister der Einheitsgemeinde Stadt Osterwieck. Genaue Angaben dürfe er wegen des Steuergeheimnisses nicht machen, sagt der Sozialdemokrat. Aber er widerspreche den Angaben des Betreibers nicht, fügt er augenzwinkernd hinzu. Und: „Wir sind eine der wenigen Gemeinden im Landkreis mit ausgeglichenem Haushalt.“
Der besondere Weg der Dardesheimer ist natürlich auch auf Landesebene längst angekommen. Marko Mühlstein, Geschäftsführer der Landesenergieagentur Sachsen-Anhalt (Lena) bestätigt: „Dardesheim ist mit seinen Erfahrungen auch für die Landespolitik wichtig“, der Ort sei „ein Motor im Land“.
Die Bürger unterdessen profitieren nicht nur über ihre Vereine und den kommunalen Haushalt, obendrein beziehen sie Strom zu günstigen Preisen: Derzeit kostet sie eine Kilowattstunde 28 Cent, mit einer Preisgarantie bis Ende 2025. Allerdings sind nur die ersten 5000 Kilowattstunden je Haushalt und Jahr zu diesem Preis zu bekommen. Verschwendung soll eben kein Vorschub geleistet werden. Von der genannten Grenze an kostet die Kilowattstunde 33 Cent. Günstiger wird es, wer sein Elektroauto über eine separate Ladestation mit eigenem Zähler lädt und dem Netzbetreiber Zugriff auf den Anschluss zur zeitweiligen Abschaltung gewährt. Dann sinkt der Kilowattstunden-Preis auf nur 22 Cent.
„Wir haben selbst eine Strompreisbremse geschaffen“, kommentiert Heinrich Bartelt, Geschäftsführer des Windparks Druiberg, das Konzept. Er ist einer der deutschen Windpioniere. Schon 1988 war er Geschäftsführer der Wistra Windstromanlagen GmbH in Ibbenbüren und später nicht nur Mitbegründer sondern zeitweise auch Hauptgeschäftsführer des BWE. Bartelt hatte über persönliche Kontakte das Projekt in Dardesheim mit lanciert und war auch an der Entwicklung des Bürgerstrommodells in Zusammenarbeit mit der Firma Westfalenwind in Paderborn beteiligt.
Im Rahmen des Modells subventionieren die Erträge der Rotoren den Strompreis für Endkunden quer. Der Clou: Wenn die Strompreise am Markt steigen und damit auch der Subventionsbedarf des gedeckelten Haushaltstarifs wächst, steigen zugleich die Erträge aus der Windstromvermarktung. In der Welt des Kapitals würde das „Hedging“ genannt.
Sogar Unternehmen können von dem Angebot profitieren. Torsten Kalbitz von der gleichnamigen Spedition in Dardesheim bezieht ebenfalls Strom vom Windpark Druiberg. Als Transporteur von Kühlware hat das Unternehmen mit seinen 38 Fahrzeugen, die vor der Abfahrt vor Ort auf Temperaturen bis minus 24 Grad gebracht werden müssen, einen hohen Strombedarf. Der Windstromtarif spare ihm jährlich rund 2500 Euro, sagt Kalbitz – das hilft, angesichts des harten Wettbewerbs in seiner Branche.
Die Unternehmen vor Ort zu halten ist in dieser Region ganz besonders wichtig, denn die strukturellen Herausforderungen sind enorm. Dazu einige Zahlen: Osterwieck ist fast 213 Quadratkilometer groß; das ist fast ein Viertel der Fläche Berlins und ziemlich genau die Fläche Stuttgarts. Dennoch leben auf dieser Fläche weniger als 11.000 Menschen. Im Jahr 2000 seien es in den damals noch selbständigen Gemeinden der heutigen Stadt Osterwieck noch rund 16.000 Einwohner gewesen, sagt Bürgermeister Dirk Heinemann. Dardesheim alleine hat aktuell noch etwa 800 Einwohner.
Die Herausforderung, in einem solchen Umfeld die Infrastruktur halbwegs aufrechtzuerhalten, ist gigantisch. Erneuerbare Energien, merkt Heinemann an, seien angesichts der verfügbaren Fläche, die große Chance der Region. Auch ein paar Dauerarbeitsplätze hat der Windpark gebracht. Bei der Enercon-Servicestelle Dardesheim, die auch andere Windparks in der Region betreut, sind zehn Personen beschäftigt. Drei weitere Mitarbeiter kümmern sich um den Windpark. In dieser ländlichen Region ist das nicht zu verachten.
Obendrein zieht das Konzept, zu dem auch regelmäßige Veranstaltungen gehören, Gäste an: Touristen aus 54 Ländern seien schon zu Besuch gewesen, hat Ortsbürgermeister Voigt aus Dardesheim einmal gezählt. An vielen Wochenenden im Jahr wird der Windpark zu einem Festivalgelände. Bereits im Jahr 2009 fand des „ersten Ökostromfestival Deutschlands“ unter den Turbinen statt. Heute gehört ein bunter Mix an Events mit bis zu 5000 Besuchern zum Jahresprogramm. Dazu zählt alljährlich im August das „Funkloch Festival“, das die Tageszeitung taz einmal als „ein Stück gelebte Alternativkultur“ beschrieben hat. Andere Veranstaltungen wurden unter den Namen „Fabel-Festival“ oder der „Rock im Mai“ überregional bekannt.
Ohne zu übertreiben, ist die Energiewende zu einem Charakteristikum des Orts geworden. „Stadt der erneuerbaren Energien“ – so steht es seit 2006 auf einem Schild am Ortseingang. In Sichtweite des Rathauses befindet sich seit 2008 die erste regenerative Stromtankstelle in Sachsen-Anhalt. Sie steht vor einem Haus mit einer großen Photovoltaikanlage. Regenerativkraftwerke Harz steht auf einem Schild an der Wand.
Das erste Fahrzeug, das dort geladen wurde, war ein Dienstwagen des Windparks, ein alter Trabant, der 2006 auf Elektroantrieb umgerüstet wurde. Mittlerweile hängt dort regelmäßig ein grüner Renault Twingo am Kabel. Die Dardesheimer Windfreunde haben das Fahrzeug schon vor mehr als zehn Jahren selbst umgebaut. Auf dem Kotflügel steht „Zebra battery powered“ – so wird bis heute die Natrium-Nickelchlorid-Zelle oft genannt. Die Lithium-Ionen-Technologie hat sie weitgehend verdrängt. Mit seinem orangenen Schriftzug „Zero Emission“ ist der Renault mittlerweile fast schon ein historisches Exponat.
Die vielen Erfolge scheinen die Dardesheimer weiterhin anzuspornen: Längst gehören zum Portfolio der Windpark-Gruppe auch einige Photovoltaik-Dachanlagen. Und bei der nächsten Konzessionsvergabe für das Stromnetz wollen die Bürger einen erneuten Anlauf zur Übernahme der örtlichen Infrastruktur nehmen. Schon 2011 waren sie in einem Bieterkonsortium aus Windpark Druiberg, Stadtwerken Wernigerode und Harzenergie Netz GmbH angetreten, das lokale Stromnetz zu übernehmen. Doch am Ende war Eon Avacon erfolgreich. Die Motivation zu einem zweiten Versuch ist groß, denn die lokale Energiewende könnte durch geringere Netzentgelte vor Ort nochmals an Schwung gewinnen.
Nebenbei bemerkt, treffen in dieser Region zwei Welten aufeinander: die Zukunft der Erneuerbaren und die Vergangenheit mit ihren Altlasten. In einer Luftlinie von 20 Kilometern Entfernung von Dardesheim befindet sich der Skandal-Schacht Asse, in dem Atommüllfässer vor sich hin rosten. Vom Windpark aus ist der Höhenzug der Asse gut zu sehen. In Dardesheim und Umgebung sei es zwar inzwischen ruhiger geworden um das Thema Asse, heißt es bei den dort ansässigen Freunden der Energiewende. Doch das Thema ist nicht abgeschlossen: Wenn eines Tages die Rückholung der Fässer beginnt, dürfte das auch in der Region wieder ein Aufregerthema werden. Wann der Zeitpunkt gekommen ist, steht jedoch längst noch nicht fest.
Schon weit fortgeschritten sind unterdessen die Pläne, auf dem Druiberg noch mehr Strom zu erzeugen. Demnächst steht dort das Repowering an. Rund 30 Bestandsmühlen sollen weichen und dafür 13 neue Enercon E-160-Anlagen errichtet werden. In einem ersten Schritt wird es Beteiligungsangebote an alle Bürger mit erstem Wohnsitz in Dardesheim, Badersleben und Rohrsheim geben, sowie an die Eigentümer im Flächenpool. Flächenpool heißt: Man hat die potenziellen Standorte der Neuanlagen, ein Areal von 218 Hektar, zusammengefasst. Jeder Eigentümer im Pool wird dann eine Pacht bekommen – unabhängig davon, ob eine Anlage oder eine Zuwegung sein Gelände künftig unmittelbar in Anspruch nimmt.
Auch solche Modelle helfen, Missgunst unter den Beteiligten zu vermeiden: Bei der Genehmigung der Neuanlagen habe es keine einzige Einwendung gegeben, heißt es. „Wir sind ein wenig wie das gallische Dorf“, sagt Vereinsvorstand Kirste. Denn in dem berühmten Comic ziehen die Gallier auch immer an einem Strang. Bürgermeister Heinemann bringt das Erfolgsrezept, das durchaus auf andere deutsche Regionen übertragbar ist, gerne mit diesem Satz auf den Punkt: „Wer auf die Windräder gucken muss, soll auch was davon sehen.“
Dieser Text stammt aus der Ausgabe 10/2024 von neue energie. Text von Bernward Janzing